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„Wieso geht denn das Licht nicht?“, rief einer. „Die Türen sind auch alle abgeschlossen.“
Die vier Männer von der Spezialeinheit standen ratlos im Flur.
„Wir sollten es lieber hier probieren“, sagte der mit der Ramme in der Hand und richtete seine Taschenlampe auf die unscheinbare Tür neben der Toilette. „Ich war mal mit meinem Sohn hier. Da hinten ist nur ein Ausstellungsraum. Hier geht es ins Observatorium.“
„Wie heißt du?“, fragte Kjell.
„Torsten.“
Kjell griff nach dem anderen Griff der Ramme. „Dann los, Torsten.“
Die Tür war dick lackiert. Der erste Stoß ließ das vertrocknete Holz splittern und schuf ein riesiges Loch. Kjell verlangte die Taschenlampe und leuchtete hinein. Hinter der Tür war nicht mehr als ein verwinkelter Flur mit weiteren Türen. Torsten vergrößerte die Öffnung mit Fußtritten und schlüpfte hindurch. Kjell folgte hinterher.
Per kam als dritter. „Das steht alles unter Denkmalschutz, damit ihr’s nur wisst.“
Kjell leuchtete auf die Informationstafel neben der ersten Tür. „Alter Meridianraum. Vor Einführung der Zeitzonen lief der Nullmeridian der schwedischen Ortszeit durch diesen Raum.“
„Na, das waren Zeiten“, fand Barbro, sortierte ihr Haar und drückte dann die Klinke.
Nachdem sich alle in dem kleinen Raum versammelt hatten, blickten sie verwundert umher. Zwischen den antiken Teleskopen und Globen standen Schaufeln und einige andere Werkzeuge.
„Entschuldigung, darf ich mal?“ Per schob Kjell beiseite und kniete sich vor einen blauen Metallkasten. Auf einmal ging das Licht an. Die Lampe war auf ein Stativ geschraubt. „Wir benutzen den gleichen Akkumulator.“
Kjell schnupperte. Es roch anders als im Flur. Nicht trocken und staubig sondern nach feuchtem Mörtel oder Erde. Das bemerkten anscheinend auch die anderen. Durch diesen Eindruck sah einer nach dem anderen zu Boden. In der Mitte war eine quadratische Fuge im Stein.
Per löste sich zuerst aus der Starre. Er lief hinaus, wo seine Untergebenen mit der Ausrüstung warteten, und kehrte mit einem Schraubenzieher zurück. Damit begann er, den Sand aus der Fuge zu kratzen.
Torsten räusperte sich. „Soweit ich weiß, steht das Gebäude auf einer dicken Steinplatte, um das Teleskop vor Erschütterungen zu schützen.“
Kjell und Barbro sahen sich an. Sie zuckte mit den Schultern. Er versuchte zum vierten Mal, Sofi anzurufen, aber bei ihr war die ganze Zeit besetzt.
„Das werden wir ja sehen.“ Per griff nach den Stemmeisen, die in der Ecke standen, und verteilte sie an die Männer. Zu sechst setzten sie mit der Spitze an und hebelten. Die Platte hob sich um einen Zentimeter, schien jedoch dicker zu sein. Die Männer ächzten vor Anstrengung und Entsetzen über das Gewicht und ließen die Platte bald wieder in ihre Ausgangslage zurückfallen.
„Seid ihr euch da wirklich sicher?“, fragte Barbro.
„Sieh dich um!“, erwiderte Per. „Der Raum hat zehn Quadratmeter und ist voller Werkzeug. Und in der Mitte liegt eine Abdeckplatte.“
„Vielleicht lagern sie das Werkzeug hier ja nur.“
Per begutachtete, was das Anheben der Platte an seinen Handflächen angerichtet hatte.
„Lasst es uns lieber damit probieren“, schlug Henning vor und griff sich die Spitzhacke, die bei den Schaufeln stand.
Die anderen rückten an die Wände. Kjell hatte Henning einmal jemandem eine Ohrfeige geben sehen und wollte weit genug weg sein, wenn er jetzt mit einer Hacke ausholte. Henning schlug zu, als wünschte er sich in seinem Leben nichts sehnlicher, als mit einer Spitzhacke zu arbeiten. Der Stein barst beim zweiten Hieb in drei große und viele kleine Teile, aber sie fielen nicht in die Tiefe. Henning zog die Brocken heraus. Darunter kam ein Gitter zum Vorschein, das er wie einen Gullydeckel hochheben konnte.
„Hat jemand Lust, in ein dunkles Loch mit ungewisser Tiefe zu klettern? Es gibt eine Leiter.“
Zum Erstaunen aller trat Barbro mit entschlossenem Gesicht vor, als hätte sie schon Nächte mit viel ungewisserem Ausgang erlebt.
Kjell spähte über den Rand in die Tiefe. Die Standlampe war so aufgestellt, dass sie bis zum Grund leuchtete. Die Wände waren schroffe Flächen aus Stein, in den auch die Eisenleiter eingelassen war. Wie ein improvisiertes Loch sah es nicht aus.
„Alles klar“, rief Barbro von unten.
Kjell hatte mit Beschwerden beim Abstieg gerechnet, doch seine Fußschiene erleichterte das Klettern eher. Barbro leuchtete mit ihrer Taschenlampe in einen Schacht. Er ging waagerecht vom Grund des Loches ab. Man konnte aufrecht in ihm stehen, aber er war so schmal, dass man seinen Körper zur Seite drehen musste.
„Das hat wohl statische Gründe“, flüsterte Barbro.
„Und vielleicht auch noch andere.“
„Was meinst du?“
„Ich bin nicht sicher.“
Barbro wedelte mit der Lampe, aber es war unmöglich, die Länge des Schachtes einzuschätzen. Sie fuhr mit der Hand über den Stein. „Wie lange dauert es wohl, so einen Gang in den Fels zu schlagen?“
Kjell fuhr mit dem Finger darüber. „Ich wette einen Hunderter darauf, dass das hier Sandstein ist. Der Berg besteht nie und nimmer aus Sandstein.“
„Wieso bist du so skeptisch?“
Kjell fuhr mit der Hand über die Oberfläche und klopfte dagegen. „Warum steht das Observatorium wohl auf einer dicken Granitplatte? Weil der Berg nicht stabil ist. Dar ganze Brunkeberg besteht aus dem Geröll der letzten Eiszeit.“
„Und wie kommt der Sandstein dann in diesen Berg?“
„Weißt du was, Barbro? Das sind Platten, die hierhergeschafft wurden, um diesen Gang abzustützen. Quarzsandstein ist noch härter als Granit.“
Barbro sah Kjell vielsagend an. Dann setzte sie den Fuß in den Gang und schlüpfte hinein. Auch Kjell zögerte nicht. Gemeinsam trippelten sie seitlich voran wie beim Mittsommertanz. Es roch trocken und staubig. Sie hatten den Eindruck, dass der Schacht nicht genau geradeaus verlief sondern in einer leichten Krümmung. Nach einer Weile blieben sie stehen und blickten zurück. Der Einsteig war nicht mehr zu sehen.
„Wie weit sind wir?“, fragte Barbro.
Ihrer Stimme war deutlich anzuhören, wie sie der Mut verließ.
„Zwanzig Meter, vielleicht mehr.“
Sie liefen weiter. Vom Anfang des Schachtes rief jemand nach ihnen. Die Stimme klang so verzerrt, dass sie nicht deuten konnten, wer da rief. Die Stimme wollte wissen, ob alles in Ordnung sei. Sie bejahten.
Barbro leuchtete voraus, aber es war immer noch kein Ende abzusehen. „Wenn uns die Luft ausgeht?“
Bisher gab es keine Anzeichen dafür.
„Die Luft müsste feucht riechen“, keuchte Barbro beim Weitergehen. „Oben ist doch ein Plateau, und es gibt viel Regen.“
„Sandstein ist witterungsbeständig. Und wenn der Rest des Berges aus Geröll und Schiefer besteht, fließt das Wasser weiter nach unten.“
Der Einstieg lag in fünf bis acht Metern Tiefe, und seitdem hatte Kjell kein Gefälle bemerkt. Sie konnten sich nicht sehr tief unter dem Rasen befinden.
Plötzlich blieb Barbro stehen und schwenkte die Lampe so lange auf und ab, bis sie beide begriffen, dass der Gang niedriger wurde. Dafür weitete er sich in der Breite. Barbro tappte weiter und musste sich immer tiefer ducken. Schließlich fiel sie auf die Knie und begann zu krabbeln. Kjell rührte sich nicht von der Stelle. Er konnte sein rechtes Knie nicht ohne Schmerzen belasten und musste warten.
Sehr weit kam Barbro nicht. Ihr Hintern füllte noch den halben Lichtkreis seiner Taschenlampe aus.
„Au!“, rief sie.
„Was ist?“, fragte Kjell nach einigen Sekunden halbherzig.
„Ich bin mit dem Knie gegen eine Kante gestoßen. Hier liegt etwas. Ein Grabstein.“
„Ein Grabstein? Mach keine Witze.“
„Es ist eher eine Abdeckplatte, die umgekippt ist. Dahinter liegt eine Art Kammer. Moment, auf der Platte steht etwas.“
Kjell sah Barbro mit der Taschenlampe den Boden ableuchten. Sie ächzte.
„Gustavus V. Neue Zeile. Rex, neue Zeile, Suecorum, neue Zeile, Gothorum, neue Zeile, Vandalorum.“
„Du brauchst nicht jedes Mal ‚neue Zeile‘ zu sagen. Das nervt mich. Lies weiter.“
„Mom… Nein, warte. Es ist eine Jahreszahl. MCMCCC.“
„1930.“
„Ich komme zurück.“
Barbro kroch rückwärts, bis sie sich aufrichten konnte. Sie rubbelte ihr Haar und leuchtete sich mit ihrer Taschenlampe ins Gesicht, damit er ihre Miene sah. „Ich bin mir nicht sicher, aber das Ende des Schachtes sieht aus wie ein Schließfach. Weißt du, was ich glaube? Die Fasces sind nicht erst seit kurzem hier in Stockholm.“
„Was hat denn Gustav der Fünfte damit zu tun?“
„Wann lebte der überhaupt?“
„Er ist um 1950 gestorben. Mehr weiß ich nicht.“
„Hat der nicht Tennis gespielt, während in Europa der Krieg tobte?“
Zehn Minuten später erreichten sie das andere Ende des Schachtes. Per und Lasse waren hinabgestiegen und harrten schon auf ihre Rückkehr.
„Und?“
„Was weißt du über Gustav den Fünften?“, fragte Barbro.
„Kungens Kurva ist nach ihm benannt.“
„Red keinen Unsinn“, sagte Kjell und klopfte den Staub von seiner Kleidung. Kungens Kurva war ein Knick in der Stadtautobahn im Süden, wo sich Einkaufszentren angesiedelt hatten.
„Doch“, bestätigte Lasse. „Der König ist dort mit dem Sportwagen in die Böschung gerast. Ikea und Heron gab es dort damals noch nicht.“
„Wir brauchen andere Informationen“, sagte Kjell zu Barbro. „Bessere!“
„Ich glaube nicht, dass von diesem Schacht etwas bekannt ist.“
„Beim Stadtbauamt müssen sie etwas darüber wissen. So etwas errichtet man doch nicht heimlich.“
„Ich habe eine Idee.“ Barbro prüfte, ob ihr Telefon Empfang hatte, und kletterte dann die Leiter hinauf. Oben rief sie die Einsatzzentrale an.
„Ich habe eine Frage. Gibt es eine Notrufnummer für das Königshaus?“ Barbro verstummte und lauschte. Kjell hob den Daumen. „Nein, das bringt mir nichts. Ich muss jetzt jemanden erreichen. Ja, ich warte gern.“
Kjell beschrieb Henning im Flüsterton das Ende des Ganges.
„Ja, Entschuldigung, dass ich störe. Mein Name …“
Barbro verstummte. Alle versuchten, etwas aus ihrer Miene abzulesen.
„Ja, gut.“ Sie legte auf und blickte so ernst wie noch nie. „Wir werden erwartet. Riddarholms Kyrka.“